„Fawning“: Ein übersehener Bewältigungsmechanismus und warum wir endlich darüber sprechen müssen
Eine queer-feministische Betrachtung aus psychotherapeutischer Perspektive
In den letzten Jahren taucht im psychotherapeutischen Diskurs immer häufiger ein Begriff auf, der lange unsichtbar geblieben ist: „Fawning“. Damit gemeint ist ein Bewältigungs- und Überlebensmechanismus, der in der deutschsprachigen Psychologie kaum Beachtung gefunden hat, obwohl er in vielen Therapiesettings eine zentrale Rolle spielt, vor allem bei Menschen, die weiblich sozialisiert wurden oder in queeren Kontexten leben.
In der Therapie begegne ich den Auswirkungen dieses Verhaltens erstaunlich oft, allerdings ohne dass der Begriff „Fawning“ in klassischen Lehrbüchern oder Diagnosesystemen vorkommt. Umso wichtiger ist es, ihn sichtbar zu machen. Denn Fawning ist nicht nur ein individuelles Verhalten. Es ist auch ein Produkt gesellschaftlicher Machtverhältnisse.
Was ist „Fawning“?
Der Begriff wurde ursprünglich von Pete Walker geprägt und beschreibt eine Stress- bzw. Traumaantwort, die ergänzend zu den bekannten Reaktionen Fight, Flight und Freeze existiert. Beim Fawn-Mechanismus versucht die Person, potenziell gefährliche oder belastende Situationen durch übermäßiges Gefallenwollen, Harmoniestreben und Selbstanpassung zu entschärfen.
Typische Anzeichen sind u. a.:
automatische Zustimmung oder Rückzug der eigenen Bedürfnisse
starkes Bedürfnis, gemocht oder akzeptiert zu werden
Übernahme emotionaler Verantwortung für andere
Angst vor Ablehnung, Kritik oder Spannung
Schwierigkeiten, Grenzen wahrzunehmen oder durchzusetzen
Der entscheidende Punkt: Fawning ist kein „nett sein“, sondern ein traumageleitetes Überlebensmuster. Es entsteht in Kontexten, in denen Sicherheit nur durch Anpassung möglich war.
Warum betrifft Fawning besonders Menschen, die weiblich sozialisiert wurden?
Aus queer-feministischer Perspektive ist Fawning weit mehr als ein individuelles Symptom. Es ist eng mit sozialer Konditionierung verbunden.
1. Sozialisation zu Gefälligkeit und Emotionsarbeit
Menschen, die weiblich sozialisiert werden, lernen früh, dass:
Harmonie wichtiger ist als Selbstbehauptung
eigene Bedürfnisse weniger Gewicht haben
Konflikte „freundlich“ gelöst werden sollen
sie für das emotionale Klima verantwortlich sind
Diese Erwartungen sind strukturell verankert, in Familien, Schulen, Medien und Arbeitswelt. Fawning wird so zu einem gesellschaftlich belohnten Verhalten, das jedoch psychische Kosten verursacht.
2. Machtverhältnisse und Sicherheit
Für marginalisierte Gruppen – Frauen, queere Menschen, trans* Personen, People of Color – kann Fawning ein strategisches Mittel sein, um sich in potenziell feindlichen Räumen zu schützen. Anpassung wird zur Überlebensstrategie.
Hier wird sichtbar: Fawning ist nicht nur psychologisch, sondern auch politisch.
Warum wurde Fawning wissenschaftlich so wenig beachtet?
Die akademische Psychologie hat lange primär cis-männliche Erfahrungswelten abgebildet. Verhaltensweisen, die vorrangig bei anders sozialisierten Menschen auftreten, wurden dadurch oft pathologisiert, bagatellisiert oder schlicht übersehen.
Einige Gründe:
Fokus auf „sichtbare“ Stressreaktionen wie Aggression oder Rückzug
fehlende feministischen Perspektiven in der akademischen Psychologie
das Missverständnis, Anpassung sei ein „positives“ oder „reifes“ Verhalten
historische Entpolitisierung psychischer Symptome
So bleibt Fawning an der Schnittstelle von Trauma, Geschlecht, Machtverhältnissen und Beziehungsmustern weitgehend unerforscht, obwohl es therapeutisch zentrale Relevanz hat.
Fawning im Alltag erkennen
Häufig zeigt Fawning sich in:
Überangepasstem Verhalten im Setting („Ich will nichts falsch machen…“)
Hemmung, eigene Emotionen auszudrücken
häufigem Relativieren eigener Belastungen
starken Schuldgefühlen bei Abgrenzung
Perfektionismus im Dienste der Beziehungssicherung
Warum Fawning politisiert werden muss
Der queer-feministischer Blick zeigt: Fawning ist eine individuelle Reaktion auf strukturelle Ungleichheit.
Wenn wir es als rein intrapsychisches Phänomen betrachten, ignorieren wir:
patriarchale Grenzverletzungen
queerfeindliche Räume
ökonomische Abhängigkeiten
Machtasymmetrien in Beziehungen
intersektionale Diskriminierung
Fawning entsteht häufig dort, wo Widerstand gefährlich wäre (oder nie gelernt werden durfte).
Aus dieser Perspektive wird Fawning ein Ort, an dem sich Trauma, Sozialisation und gesellschaftliche Macht berühren.
Fawning zu benennen, bedeutet nicht, ein neues „Buzzword“ zu etablieren. Es bedeutet, einen Mechanismus ernst zu nehmen, der unzählige Menschen betrifft, insbesondere diejenigen, deren Leben von Geschlechterrollen, Diskriminierungsstrukturen und Beziehungstraumata geprägt ist.
Fawning verdient wissenschaftliche Aufmerksamkeit, gesellschaftliche Reflexion und therapeutische Sensibilität.
Denn wer Fawning versteht, versteht nicht nur ein Symptom, sondern ein Überlebensmuster.