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Tim Nik – Privatpraxis für Psycho- und Sexualtherapie (nach Heilpraktikergesetz)

„Fawning“: Ein übersehener Bewältigungsmechanismus und warum wir endlich darüber sprechen müssen

Eine queer-feministische Betrachtung aus psychotherapeutischer Perspektive

In den letzten Jahren taucht im psychotherapeutischen Diskurs immer häufiger ein Begriff auf, der lange unsichtbar geblieben ist: „Fawning“. Damit gemeint ist ein Bewältigungs- und Überlebensmechanismus, der in der deutschsprachigen Psychologie kaum Beachtung gefunden hat, obwohl er in vielen Therapiesettings eine zentrale Rolle spielt, vor allem bei Menschen, die weiblich sozialisiert wurden oder in queeren Kontexten leben.

In der Therapie begegne ich den Auswirkungen dieses Verhaltens erstaunlich oft, allerdings ohne dass der Begriff „Fawning“ in klassischen Lehrbüchern oder Diagnosesystemen vorkommt. Umso wichtiger ist es, ihn sichtbar zu machen. Denn Fawning ist nicht nur ein individuelles Verhalten. Es ist auch ein Produkt gesellschaftlicher Machtverhältnisse.

Was ist „Fawning“?

Der Begriff wurde ursprünglich von Pete Walker geprägt und beschreibt eine Stress- bzw. Traumaantwort, die ergänzend zu den bekannten Reaktionen Fight, Flight und Freeze existiert. Beim Fawn-Mechanismus versucht die Person, potenziell gefährliche oder belastende Situationen durch übermäßiges Gefallenwollen, Harmoniestreben und Selbstanpassung zu entschärfen.

Typische Anzeichen sind u. a.:

  • automatische Zustimmung oder Rückzug der eigenen Bedürfnisse

  • starkes Bedürfnis, gemocht oder akzeptiert zu werden

  • Übernahme emotionaler Verantwortung für andere

  • Angst vor Ablehnung, Kritik oder Spannung

  • Schwierigkeiten, Grenzen wahrzunehmen oder durchzusetzen

Der entscheidende Punkt: Fawning ist kein „nett sein“, sondern ein traumageleitetes Überlebensmuster. Es entsteht in Kontexten, in denen Sicherheit nur durch Anpassung möglich war.

Warum betrifft Fawning besonders Menschen, die weiblich sozialisiert wurden?

Aus queer-feministischer Perspektive ist Fawning weit mehr als ein individuelles Symptom. Es ist eng mit sozialer Konditionierung verbunden.

1. Sozialisation zu Gefälligkeit und Emotionsarbeit

Menschen, die weiblich sozialisiert werden, lernen früh, dass:

  • Harmonie wichtiger ist als Selbstbehauptung

  • eigene Bedürfnisse weniger Gewicht haben

  • Konflikte „freundlich“ gelöst werden sollen

  • sie für das emotionale Klima verantwortlich sind

Diese Erwartungen sind strukturell verankert, in Familien, Schulen, Medien und Arbeitswelt. Fawning wird so zu einem gesellschaftlich belohnten Verhalten, das jedoch psychische Kosten verursacht.

2. Machtverhältnisse und Sicherheit

Für marginalisierte Gruppen – Frauen, queere Menschen, trans* Personen, People of Color – kann Fawning ein strategisches Mittel sein, um sich in potenziell feindlichen Räumen zu schützen. Anpassung wird zur Überlebensstrategie.

Hier wird sichtbar: Fawning ist nicht nur psychologisch, sondern auch politisch.

Warum wurde Fawning wissenschaftlich so wenig beachtet?

Die akademische Psychologie hat lange primär cis-männliche Erfahrungswelten abgebildet. Verhaltensweisen, die vorrangig bei anders sozialisierten Menschen auftreten, wurden dadurch oft pathologisiert, bagatellisiert oder schlicht übersehen.

Einige Gründe:

  • Fokus auf „sichtbare“ Stressreaktionen wie Aggression oder Rückzug

  • fehlende feministischen Perspektiven in der akademischen Psychologie

  • das Missverständnis, Anpassung sei ein „positives“ oder „reifes“ Verhalten

  • historische Entpolitisierung psychischer Symptome

So bleibt Fawning an der Schnittstelle von Trauma, Geschlecht, Machtverhältnissen und Beziehungsmustern weitgehend unerforscht, obwohl es therapeutisch zentrale Relevanz hat.

Fawning im Alltag erkennen

Häufig zeigt Fawning sich in:

  • Überangepasstem Verhalten im Setting („Ich will nichts falsch machen…“)

  • Hemmung, eigene Emotionen auszudrücken

  • häufigem Relativieren eigener Belastungen

  • starken Schuldgefühlen bei Abgrenzung

  • Perfektionismus im Dienste der Beziehungssicherung

Warum Fawning politisiert werden muss

Der queer-feministischer Blick zeigt: Fawning ist eine individuelle Reaktion auf strukturelle Ungleichheit.

Wenn wir es als rein intrapsychisches Phänomen betrachten, ignorieren wir:

  • patriarchale Grenzverletzungen

  • queerfeindliche Räume

  • ökonomische Abhängigkeiten

  • Machtasymmetrien in Beziehungen

  • intersektionale Diskriminierung

Fawning entsteht häufig dort, wo Widerstand gefährlich wäre (oder nie gelernt werden durfte).

Aus dieser Perspektive wird Fawning ein Ort, an dem sich Trauma, Sozialisation und gesellschaftliche Macht berühren.

Fawning zu benennen, bedeutet nicht, ein neues „Buzzword“ zu etablieren. Es bedeutet, einen Mechanismus ernst zu nehmen, der unzählige Menschen betrifft, insbesondere diejenigen, deren Leben von Geschlechterrollen, Diskriminierungsstrukturen und Beziehungstraumata geprägt ist.

Fawning verdient wissenschaftliche Aufmerksamkeit, gesellschaftliche Reflexion und therapeutische Sensibilität.

Denn wer Fawning versteht, versteht nicht nur ein Symptom, sondern ein Überlebensmuster.

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