Wenn Vielfalt auf Schubladen trifft: Re-Essentialisierung queerer Identitäten in der Psychotherapie
Die Psychotherapie gilt vielen als Ort der Reflexion, Heilung und Befreiung, insbesondere für Menschen, die in einer normativen Gesellschaft als „anders“ wahrgenommen werden. Doch gerade im Umgang mit Minderheiten wie queeren Personen zeigt sich ein paradoxes Phänomen: Statt zu dekonstruieren, was gesellschaftlich marginalisiert wird, verfestigt die Psychotherapie mitunter stereotype Zuschreibungen. Dieses Phänomen wird als Re-Essentialisierung bezeichnet und verdient kritische Aufmerksamkeit.
Was bedeutet Re-Essentialisierung?
Re-Essentialisierung beschreibt den Prozess, bei dem komplexe, fluid gedachte Identitäten (z. B. Geschlecht, Sexualität, kulturelle Zugehörigkeit) wieder auf vermeintlich „essentielle“, unveränderliche Eigenschaften reduziert werden. Anstatt Vielfalt anzuerkennen, greift man auf vertraute Kategorien zurück, die oft historisch auf Vorurteilen und Machtasymmetrien beruhen.
Im psychotherapeutischen Kontext äußert sich das z. B. so:
Queere Menschen werden als „andersartig“ problematisiert, nicht als normal vielfältig verstanden.
Transidentität wird pathologisiert oder mit unbewältigten Traumata gleichgesetzt.
Kulturelle Zuschreibungen werden verabsolutiert („Als arabischer Mann haben Sie halt ein anderes Verhältnis zu Gefühlen…“).
Warum passiert das in der Psychotherapie?
Psychotherapeut:innen sind keine neutralen Beobachter:innen. Sie handeln in einem gesellschaftlichen und kulturellen Rahmen. Auch gut gemeinte Diversitätsbemühungen können in eine Falle tappen: Wenn Unterschiede betont werden, ohne kritisch über Macht, Geschichte und Kontext zu reflektieren, entsteht eine neue Form der Normierung.
Beispiele:
Ein Therapeut liest in einem Lehrbuch, dass queere Menschen häufiger unter Angststörungen leiden und beginnt, jede queere Identität durch die Linse eines Defizits zu betrachten.
In der Ausbildung wird interkulturelle Kompetenz gelehrt, aber häufig auf kulturelle „Typologien“ reduziert statt individuelle Lebensrealitäten zu erkunden.
Eine Patientin spricht über ihre Polyamorie, und der Therapeut fokussiert sich primär auf Bindungsstörungen statt die Beziehung als legitime Lebensform zu verstehen.
Zwischen Anerkennung und Reduktion
Re-Essentialisierung ist kein böser Wille. Sie ist eine Reaktion auf Unsicherheit. In einer Welt voller Identitätsvielfalt versuchen Menschen, Strukturen zu schaffen. Doch wenn diese Strukturen zu starr werden, ersticken sie das, was sie eigentlich schützen sollten.
Für queere Menschen kann das bedeuten:
Sie fühlen sich in Therapie nicht gesehen, sondern katalogisiert.
Ihre Probleme werden auf ihre Identität zurückgeführt statt im sozialen Kontext verstanden.
Sie erleben subtilen Ausschluss oder Mikroaggressionen, selbst in „queerfreundlichen“ Settings.
Was kann dagegen getan werden?
Selbstreflexion fördern: Therapeut:innen müssen die eigene Sozialisation, Vorurteile und blinde Flecken erkennen (kontinuierlich).
Nicht-Wissen aushalten: Nicht alles muss sofort eingeordnet werden. Offenheit für Ambiguität ist zentral.
Dekonstruktion statt Kategorisierung: Identität ist kein stabiler Zustand, sondern ein Prozess. Dieser Prozess sollte begleitet, nicht fixiert werden.
Sprache sensibel einsetzen: Sprache schafft Realität. Ob jemand „an Transidentität leidet“ oder „sich als trans identifiziert“, macht einen Unterschied.
Betroffene einbinden: Queere Menschen sollen nicht nur behandelt, sondern auch als Expert:innen für ihre Lebensrealitäten ernst genommen werden, etwa in Ausbildung, Supervision und Fachgremien.
Fazit
Re-Essentialisierung ist ein leiser, aber wirkungsvoller Mechanismus in der Psychotherapie, oft ungewollt, aber mit weitreichenden Folgen. Sie verhindert das, was Psychotherapie eigentlich leisten sollte: Menschen in ihrer ganzen Komplexität zu verstehen. Für queere Personen bedeutet das, nicht auf ihre Identität reduziert zu werden, sondern als ganze Menschen gesehen und begleitet zu werden.