SSRI und andere Psychopharmaka: Wie Medikamente die Sexualität beeinflussen
Psychopharmaka können das Leben vieler Menschen mit psychischen Erkrankungen deutlich verbessern – sie lindern Symptome, stabilisieren die Stimmung und ermöglichen den Alltag. Doch sie bringen auch Nebenwirkungen mit sich, über die häufig wenig offen gesprochen wird. Eine besonders intime, aber zentrale Rolle spielt dabei die Sexualität.
1. SSRI – Serotonin und die gedämpfte Lust
Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) wie Fluoxetin, Citalopram, Sertralin oder Escitalopram zählen zu den am häufigsten verschriebenen Antidepressiva. Ihre Wirkung basiert auf einer Erhöhung des Serotoninspiegels im Gehirn, was stimmungsaufhellend wirkt. Doch Serotonin hat auch einen dämpfenden Effekt auf das sexuelle Verlangen – ein Paradoxon: Was gegen Depression hilft, kann genau das dämpfen, was für Lebensfreude mitverantwortlich ist – die Sexualität.
Typische sexuelle Nebenwirkungen von SSRI:
Verminderte Libido (sexuelles Verlangen)
Erschwerte oder ausbleibende Erregung (z. B. erektile Dysfunktion)
Orgasmusstörungen (verzögerter oder ausbleibender Orgasmus)
Genitale Sensibilität kann reduziert sein (genital anästhesia)
Diese Nebenwirkungen treten bei etwa 30–70 % der Patient:innen auf – oft schleichend und manchmal erst nach Wochen oder Monaten. Besonders frustrierend: Selbst wenn die Stimmung sich verbessert, bleibt die Sexualität eingeschränkt, was zu Beziehungsproblemen oder einem Rückgang der Lebensqualität führen kann.
2. Andere Antidepressiva: Gibt es Alternativen ohne sexuelle Nebenwirkungen?
Nicht alle Antidepressiva wirken sich gleichermaßen negativ auf die Sexualität aus. Einige Substanzen gelten als „sexualfreundlich“:
Bupropion (z. B. Elontril): Ein atypisches Antidepressivum, das dopaminerg und noradrenerg wirkt. Es kann nicht nur die Libido erhalten, sondern bei manchen Menschen sogar steigern.
Mirtazapin: Führt seltener zu sexuellen Nebenwirkungen als SSRI, allerdings kann es durch Gewichtszunahme und Sedierung indirekt das sexuelle Erleben beeinträchtigen.
Agomelatin: Hat ein sehr günstiges sexuelles Nebenwirkungsprofil, ist aber nicht für alle Formen der Depression geeignet.
Auch Kombinationstherapien (z. B. SSRI + Bupropion) werden manchmal eingesetzt, um die antidepressive Wirkung aufrechtzuerhalten und die Sexualfunktion zu verbessern.
3. Antipsychotika, Stimmungsstabilisierer und Sexualität
Bei Bipolaren Störungen, Schizophrenie oder schweren Depressionen kommen oft weitere Substanzklassen zum Einsatz:
Antipsychotika (z. B. Risperidon, Olanzapin, Aripiprazol): Viele dieser Medikamente erhöhen den Prolaktinspiegel, was zu Libidoverlust, Orgasmusstörungen oder sexueller Gleichgültigkeit führen kann. Besonders Risperidon gilt als problematisch.
→ Aripiprazol hingegen hat ein geringeres Risiko für sexuelle Nebenwirkungen und wird gelegentlich sogar zur „Gegensteuerung“ eingesetzt.Stimmungsstabilisierer wie Lithium oder Valproat beeinflussen die Sexualität individuell. Lithium kann zu sexueller Einbuße führen, aber oft auch neutral wirken. Antikonvulsiva wie Lamotrigin haben ein günstigeres Profil und können teilweise sogar positive Effekte zeigen.
4. Weitere Medikamente mit Einfluss auf die Libido
Nicht nur Psychopharmaka beeinflussen das sexuelle Erleben. Auch andere Medikamente können fördernd oder hemmend wirken:
Negative Einflüsse:
Betablocker (z. B. Metoprolol): können Erektionsstörungen und Libidoverlust auslösen
Blutdrucksenker (z. B. Diuretika): ähnlich wie Betablocker
Hormonpräparate (z. B. Gestagen-dominierte Verhütung): können das sexuelle Verlangen dämpfen
Positive Einflüsse:
PDE-5-Hemmer wie Sildenafil (Viagra) oder Tadalafil (Cialis): fördern die Erektionsfähigkeit, helfen aber nicht direkt bei Lustlosigkeit
Testosteronersatz (bei nachgewiesenem Mangel): kann Libido und Erregung steigern
Dopaminagonisten (z. B. bei Parkinson): können das sexuelle Verlangen sogar übermäßig steigern
5. Strategien im Umgang mit sexuellen Nebenwirkungen
Wenn Medikamente die Sexualität beeinträchtigen, stehen verschiedene Strategien zur Verfügung:
Offenes Gespräch mit Fachpersonen: Viele Betroffene schweigen aus Scham – doch Ärzt:innen sind verpflichtet, auf Nebenwirkungen einzugehen und Alternativen zu prüfen.
Dosisanpassung oder Medikamentenwechsel: Oft reicht eine Dosisreduktion oder ein Wechsel zu einer sexualfreundlicheren Substanz.
„Drug Holidays“: (zeitweise Medikamentenpausen) – riskant und nicht bei allen Präparaten möglich oder empfohlen.
Medikamentöse Ergänzung: z. B. Bupropion zur Libidosteigerung oder PDE-5-Hemmer zur Unterstützung der Erektion.
Sexualtherapie oder Paarberatung: Besonders hilfreich, wenn psychische Faktoren die Problematik verstärken.
Fazit: Sexualität als Teil der psychischen Gesundheit ernst nehmen
Sexuelle Gesundheit ist ein essenzieller Bestandteil der Lebensqualität – auch und gerade bei psychischen Erkrankungen. Psychopharmaka retten Leben und ermöglichen Stabilität, aber sie dürfen nicht unhinterfragt hingenommen werden, wenn sie die Sexualität massiv einschränken. Offenheit, ärztliche Aufklärung und individuelle Anpassungen sind entscheidend, um Therapieerfolg und Lebensfreude in Einklang zu bringen.
Quellenangaben (nach Themenbereich geordnet)
1. SSRI und sexuelle Nebenwirkungen
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4. Weitere Medikamente (PDE-5-Hemmer, Testosteron, Betablocker)
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