ADHS und offene Beziehungen – Chancen und Herausforderungen
Offene Beziehungen sind längst kein Nischenthema mehr. Immer mehr Paare und Einzelpersonen interessieren sich dafür, wie alternative Beziehungsmodelle zu ihrem Leben passen könnten. Gleichzeitig wächst auch das Bewusstsein für neurodiverse Lebensrealitäten, wie zum Beispiel ADHS. Doch was bedeutet es eigentlich, wenn Menschen mit ADHS in offenen Beziehungsformen leben oder leben möchten?
ADHS und Intimität
ADHS beeinflusst nicht nur Aufmerksamkeit und Impulsivität im Alltag, sondern auch die Art und Weise, wie Menschen Beziehungen gestalten und Intimität erleben. Viele Betroffene beschreiben:
hohe Intensität in emotionalen Verbindungen
Neugier und Abenteuerlust, die auch das Bedürfnis nach Abwechslung einschließt
Herausforderungen bei Selbstorganisation und Kommunikation, die in Beziehungen zu Missverständnissen führen können
Diese Eigenschaften können sowohl bereichernd als auch herausfordernd sein (je nachdem, wie bewusst damit umgegangen wird).
Offene Beziehungen als Chance
Offene oder polyamore Beziehungsmodelle können für Menschen mit ADHS besondere Vorteile bieten:
Abwechslung und Stimulation: Neue Begegnungen können das Bedürfnis nach Neuem stillen und Langeweile vorbeugen.
Individuelle Freiheit: Ein flexibles Beziehungsmodell kann helfen, Druck zu reduzieren, wenn klassische Erwartungen wie „für immer nur eine:n Partner:in“ als einengend empfunden werden.
Vielfältige Unterstützung: Mehrere enge Bezugspersonen können unterschiedliche Bedürfnisse auffangen und damit auch Entlastung bringen.
Typische Stolpersteine
Gleichzeitig sind mit offenen Beziehungsmodellen auch Risiken verbunden, die sich durch ADHS verstärken können:
Impulsivität: Entscheidungen im Affekt, etwa beim Kennenlernen neuer Menschen, können bestehende Absprachen gefährden.
Kommunikationshürden: ADHS-bedingte Vergesslichkeit oder Ablenkbarkeit erschwert manchmal, Regeln zuverlässig einzuhalten.
Emotionale Intensität: Starke Eifersuchtsgefühle oder Bindungsängste können unerwartet auftreten.
Als Sexualtherapeut sehe ich, dass es entscheidend ist, bewusste Strukturen zu schaffen:
Klare Absprachen schriftlich festhalten damit auch bei Vergesslichkeit Sicherheit entsteht.
Regelmäßige Check-ins: kurze, geplante Gespräche können helfen, Stimmungen und Bedürfnisse rechtzeitig wahrzunehmen.
Selbstregulation üben: Atemtechniken, Achtsamkeit oder medikamentöse Unterstützung (falls vorhanden) können helfen, Impulsivität abzufedern.
Offene Kommunikation über Neurodivergenz, wenn Partner:innen verstehen, wie ADHS wirkt, können sie mitfühlender reagieren.
Offene Beziehungen sind kein Allheilmittel, weder für ADHS noch für klassische Beziehungskrisen. Aber sie können ein passendes Modell sein, wenn Bedürfnisse nach Abwechslung, Nähe und Freiheit bewusst gestaltet werden. Entscheidend ist dabei nicht die Beziehungsform selbst, sondern der achtsame Umgang mit der eigenen Neurodivergenz und den Bedürfnissen aller Beteiligten.