Der Coming-Out-Prozess nach Vivien Cass
Der Coming-Out-Prozess ist für viele Menschen eine prägende und oft emotionale Reise, die mit Selbstfindung, Akzeptanz und Mut verbunden ist. Als Sexualtherapeut:in ist es entscheidend, diesen Prozess zu verstehen, um Klient:innen effektiv zu unterstützen. Das Modell von Vivien Cass, einer australischen Psychologin, bietet dabei eine wertvolle Orientierung. Es beschreibt die verschiedenen Phasen, die eine Person im Coming-Out durchlaufen kann, und beleuchtet sowohl die inneren als auch die äußeren Herausforderungen.
Was ist das Cass-Modell des Coming-Out?
Das Cass-Modell wurde 1979 entwickelt und ist eines der bekanntesten und umfassendsten Modelle zur Beschreibung des Coming-Out-Prozesses. Es basiert auf der Annahme, dass sexuelle Orientierung und Identität ein dynamisches Wechselspiel zwischen innerer Selbstwahrnehmung und sozialer Akzeptanz ist. Das Modell umfasst sechs Phasen, die nicht zwingend linear verlaufen. Menschen können zwischen den Phasen vor- und zurückspringen oder auch in einer bestimmten Phase verweilen.
Die sechs Phasen des Coming-Out nach Vivien Cass
1. Verwirrung der Identität (Identity Confusion)
In dieser Phase beginnt die Person, ihre sexuelle Orientierung infrage zu stellen. Gedanken wie „Bin ich anders?“ oder „Warum fühle ich mich zu Menschen meines eigenen Geschlechts hingezogen?“ sind häufig. Diese Phase ist oft von Unsicherheit, Angst oder Scham geprägt.
2. Vergleich der Identität (Identity Comparison)
Die Person erkennt, dass sie möglicherweise nicht der heterosexuellen Norm entspricht, und beginnt, sich mit anderen zu vergleichen. Sie könnte sich fragen: „Bin ich wirklich homosexuell/bisexuell?“ oder „Was bedeutet das für mein Leben?“ Oft treten Gefühle von Isolation oder Verlust auf.
3. Toleranz der Identität (Identity Tolerance)
Die Person beginnt, ihre sexuelle Orientierung anzuerkennen, ist jedoch noch nicht vollständig damit im Reinen. Häufig sucht sie erstmals Kontakt zu anderen Menschen aus der LGBTQ+-Community.
4. Akzeptanz der Identität (Identity Acceptance)
In dieser Phase akzeptiert die Person ihre sexuelle Orientierung und beginnt, sie als Teil ihrer Identität zu integrieren. Häufig fühlt sie sich sicherer in der Interaktion mit Gleichgesinnten.
5. Stolz auf die Identität (Identity Pride)
Die Person entwickelt ein starkes Zugehörigkeitsgefühl zur LGBTQ+-Community und ist stolz auf ihre Identität. Oft entsteht jedoch auch Wut über Diskriminierung oder Ungerechtigkeit.
6. Synthese der Identität (Identity Synthesis)
In der finalen Phase ist die sexuelle Orientierung vollständig in die Gesamtidentität integriert. Die Person fühlt sich nicht länger durch ihre Orientierung definiert, sondern betrachtet sie als natürlichen Teil ihrer Selbst.
Fazit: Ein lebenslanger Prozess der Selbstakzeptanz
Das Modell von Vivien Cass verdeutlicht, dass das Coming-Out ein dynamischer und emotionaler Prozess ist, der Zeit und Unterstützung erfordert. Als Therapeut haben ich die Möglichkeit, Klient:innen auf dieser Reise zu begleiten, sie zu stärken und ihnen zu helfen, Stolz und Akzeptanz für ihre Identität zu entwickeln.
Der Weg zum authentischen Selbst ist nicht immer einfach, aber er lohnt sich – für die Klient:innen und für unsere Gesellschaft als Ganzes.